Im Moment wird unser Sozialleben auf den Kopf gestellt. Einfache soziale Bedürfnisse, wie Freunde treffen, einander nahe sein, Feste feiern, Konzerte anhören oder zusammen einen Kaffee trinken, sind nicht mehr möglich. Um unsere Überlebenschancen zu steigern, müssen wir so oft wie möglich allein sein und mit möglichst wenigen anderen Menschen Umgang haben.
Das fällt auch gesunden, gut integrierten Menschen schwer. Wie muss das erst für diejenigen sein, die sich vorher schon oft einsam gefühlt hatten, oder für Menschen, die arm, krank, süchtig oder arbeitslos sind?
Unser Sozialwesen ist enorm gut ausgebaut. Sozialinfo Schweiz listet hunderte von sozialen Angeboten auf. Aber deren Angebot ist auf die Normalität ausgerichtet, nicht auf den Ausnahmezustand, in dem sich unsere Gesellschaft seit dem Frühjahr befindet und der uns noch monate- und jahrelang beeinträchtigen wird.
Die Welt hat sich in den letzten Monaten massiv verändert, das wird nicht ohne Spuren an unserer Gesellschaft vorbei gehen. Es wird mehr Menschen ohne Arbeit geben, vulnerable Gruppen werden andere und vielleicht sogar grössere Bedürfnisse haben wie bisher.
Allerdings ist bereits jetzt schon abzusehen, dass die Mittel für soziale Unterstützungsangebote knapper sein werden als bisher.
Wir können also nicht damit rechnen, dass die Finanzierung von neuen Hilfsangeboten leicht fallen wird.
Wenn wir unsere Zielgruppen trotzdem gut erreichen wollen, müssen wir viele Angebote rasch umbauen und an die neuen Herausforderungen anpassen.
Das Ziel muss sein, möglichst eine grosse Wirkung bei den Betroffenen zu erzielen. Dafür müssen neue, vielleicht auch günstigere und anders organisierte Wege gefunden werden.
Das Sozialwesen steht unter einem riesigen Anpassungsdruck, der sich von allen bisherigen Herausforderungen unterscheidet.
Das Bildungswesen hat reagiert
Wir haben in den letzten Wochen und Monaten gesehen, wie rasch das Bildungswesen auf die neue Situation reagiert hat. Mit grossem Engagement und vielen Anstrengungen wurden Lehrpläne und Unterrichtseinheiten auf Fernunterricht umgestellt.
Die grossen und teuren Privatuniversitäten in Amerika mussten empfindliche Einnahmeausfälle hinnehmen, weil die Studenten aus dem Ausland nicht mehr kamen. Die neuen Unterrichtsmethoden bringen aber auch Chancen. Viele Onlinekurse an guten Universitäten sind erschwinglich geworden auch für Studierende ohne dickes Portemonnaie. Das verbessert die Chancengerechtigkeit.
Dies sind erst die ersten Anzeichen eines grossen Wandels. Es ist noch zu früh, wissen zu wollen, wie die nachhaltige Entwicklung ausfallen wird.
Politik war schnell wie selten
Wer im Frühjahr die Nachrichten verfolgt hat, war erstaunt, wie schnell die ersten Hilfspakete geschürt wurden und wie unkompliziert die Finanzhilfen gewährt wurden. Solche Vorkommnisse in der sonst so trägen Politik lassen hoffen.
Ruhe im Sozialbereich
Interessanterweise war es bisher eher ruhig im Sozialbereich. Viele Angebote wurden heruntergefahren. Hinter den Kulissen wurde viel über Gelder verhandelt. Ob der Kanton auch zahlt, wenn ganz wenig Menschen die Angebote nutzen. Bisher konnten dank kulanten Geldgebern Entlassungen weitgehend verhindert werden.
Allerdings fehlen Ideen, wie mit der neuen Situation umzugehen ist.
Was bedeutet es, wenn tatsächlich eine grosse Zahl von bisher Selbständigen aus dem Gastgewerbe oder Eventbereich die Arbeit verliert?
Können sie wirklich mit den bisherigen Methoden der Arbeitsintegration wieder eine Stelle finden, oder braucht es vielleicht ganz andere Modelle?
Eine Schwierigkeit im Sozialwesen besteht darin, dass in den letzten Jahrzehnten die Kantone und die Kommunen immer stärker mitregiert haben und an vielen Orten das Angebot nicht nur mitgeprägt, sondern auch bestimmt hatten.
Der sozialunternehmerische Geist der Anbieter hat unter dieser Entwicklung stark gelitten.
In vielen Organisationen war das Korsett der Vorgaben so eng, dass kaum mehr Innovation möglich war.
Das muss sich dringend ändern.
Wir erleben im Moment eine medizinische Krise mit grossen gesellschaftlichen Auswirkungen. Je besser und je schneller es uns gelingt, die entstehende Not zu lindern, je rascher kommt unser Land wieder auf die Beine.
Im Moment braucht es keine staatlich gelenkten grossen Würfe, sondern einen gezielten und umgelenkten Ressourceneinsatz der vielen grossen und kleinen Anbieter. Wir müssen anpacken, voneinander lernen und für den Moment unsere Vorstellungen von perfekter Professionalität auf die Seite legen und zusammenarbeiten.
Krisen sind immer auch Chancen, aber man muss sie packen.
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